Kann stationärer Handel auch in Zukunft funktionieren?

Marta Kwiatkowski Schenk, Senior Researcher & Deputy Head Think Tank, Gottlieb Duttweiler Institute|Zürich

„Es gibt sie noch, die guten Dinge", ist der Leitsatz eines bekannten Warenhauses. "Gibt es sie noch, die guten Läden?", ist eine Frage, die den Retail umtreibt. Und wenn ja, welche Parameter müssen stimmen, damit sie erfolgreich sind? Wer neu denkt und sein Geschäftsmodell anpasst, ist auf einem guten Weg.

Nehmen wir es vorweg: Stationären Handel, wie wir ihn traditionell kennen, wird es in Zukunft nicht mehr geben. Es gibt ihn  bereits  heute  nicht  mehr.  Kein  Händler,  sei  er  noch  so klein, arbeitet ohne digitale Verstärker. Selbst wenn sich der Händler offensichtlich sämtlichen digitalen Kanälen entzieht, tun es die Konsumenten nicht. Faktisch sind sie ständig und überall online. So stehen sie möglicherweise im lokalen Eisenwarengeschäft, weil sie auf einem Instagram-Post eines Kollegen die gewünschten Beschläge gesehen haben – Hashtag #blackironmounting #berlin. Das Geschäftsmodell des Händlers mag zwar noch margen- und flächengetrieben sein, ein isoliertes Konzept ist es nicht mehr.

Fläche ist längst nicht mehr ein Schaulager

Wenn wir heute über traditionellen Handel sprechen, meinen wir noch immer Fläche: Handelsfläche, Lagerfläche, Nutzfläche und natürlich Umsatz pro Quadratmeter. Doch Fläche hat verschiedene Funktionen und Qualitäten. Nehmen wir exemplarisch das Bild einer Stadt. Sie bietet Logistikraum, der unsere Effizienz organisiert. Erholungsraum wie Parkanlagen, Aussichtspunkte oder Sitzgelegenheiten. Natürlich Rückzugsraum wie unsere privaten vier Wände, wo wir vor sozialer Kontrolle geschützt sind und uns entspannen können. Oder auch Raum für Inspiration wie Museen oder Architektur, die das Wohlbefinden prägen. Orte des sozialen Austausches und natürlich seit eh und je Orte des Handels und Konsums. Doch diese Trennung von Orten nach Funktionen, wie sie beispielsweise der Schweizer Architekt Le Corbusier propagierte, löst sich zusehends auf. Wir essen im öffentlichen Raum, erledigen Privates auch mal bei der Arbeit, halten in Museen Workshops ab.

Die Entortung des Konsums

Diese Fluidität der Orte hat insbesondere zwei Gründe: Zum einen ist es uns dank der digitalen Verfügbarkeit von Informationen jederzeit und überall möglich, Zugang zu Dienstleistungen und Angeboten zu erhalten oder uns sozial zu vernetzen. Der physische Aufenthaltsort ist dadurch mit dem mentalen nicht mehr zwingend kongruent. Zum anderen sind wir mobiler denn je. Unsere Mobilität und unser Aktionsradius nehmen stetig zu. Dass wir immer mehr unterwegs sind, verändert unsere Routinen. Wir kaufen ein, wo immer es gerade praktisch erscheint und etwas schnell und bequem zugänglich ist.

Vertrieb ist heute überall, der Konsum ist entortet und damit auch der Handel. Die Konsumenten stehen im Zentrum eines neuen Ökosystems, das über verschiedene Kanäle hinweg funktioniert. Inspiration, Information und Transaktion finden nicht mehr an ein und demselben Ort – also im Laden – statt. Für die Konsumenten ist das ein permanenter und simultan funktionierender Prozess.

Die neuen Funktionen der Fläche

In diesem Ökosystem gilt es zu verstehen, welche Rolle die physische Fläche noch einnimmt. Weit verbreitet gilt die Meinung, Händler müssten jetzt Erlebnisse bieten. Daher setzen zahlreiche Läden auf außergewöhnliche Momente.

Traditionell kennen wir das vom Luxus-Segment, welches Marken in Flagshipstores inszeniert und eine Welt der Wünsche und Träume erschafft. Ein aktuelles Beispiel ist The Row, das Fashion-Label der Schauspielerinnen Mary-Kate und Ashley Olsen. In den schicken Townhouses des Labels in New York, Los Angeles und London betritt man keinen Laden. Vielmehr fühlt man sich privilegiert, in eine privat anmutende Atmosphäre eintauchen und ein Freund der Familie sein zu dürfen. Kunst,  die auch  in einem  Museum  hängen  könnte,  und Mid-Century-Möbel, die auch gekauft werden können, bilden den Rahmen für das eigentliche Produkt, die Kleider.

Auf Erlebnis setzt auch Gentlemonster. Der südkoreanische Brillenhersteller inszeniert Kunstausstellungen, die alle paar Wochen wechseln. Die Brille ist in der  Filiale  kaum  mehr auszumachen. Der Ausstellungs-Rhythmus, der dem einer Kunstgalerie ähnlich ist, spielt mit der „Fear of missing out“: der Angst, beim grossen Ereignis nicht dabei gewesen zu sein. Man möchte ja Teil der (globalen) Community sein – und dies auch zeigen. Die „Instagramability“ des Ladens ist denn auch Bestandteil der Werbestrategie von Gentlemonster.

Selbst Margenoptimierer  der Fast-Fashion-Industrie  wie Zara bedienen   sich   des   Marketingeffekts   von   Erlebnissen.   Sie mieten sich nicht nur in praktische „Lagerläden“ ein, sondern auch in geschichtsträchtige Orte wie ein ehemaliges Kino am Corso Vittorio Emmanuele in Mailand. Die Kleider sollen vor Ort  nicht  nur  anprobiert,  sondern vor der prächtigen  Kulisse auch fotografisch in Szene ge- setzt werden können.

Retten Erlebnisse also den stationären Handel? Beschränkt. Denn ob Zara, Gentlemonster oder The Row, keines dieser Erlebniskonzepte funktioniert isoliert  stationär.  Sie  sind,  ganz im  Gegenteil, integraler Bestandteil des jeweiligen Marken-Ökosystems und fungieren primär als Marketing.

Reis und Reinigungsmittel werden wir auch in Zukunft   brauchen.   Dennoch ist Einkaufen längst nicht mehr nur ein zweckdienliches Unterfangen. Vielmehr fließen Einkaufen und Freizeit im Shopping zusammen und werden vermehrt gar zum Wellness-Erlebnis. Damit wird das individuelle Wohl- befinden  jedes  Kunden  immer  wichtiger,  zumal  Wearables das Messen dieses Wohlbefindens vereinfachen: Konsumenten wissen zunehmend Bescheid über den Erholungs- oder Happiness-Faktor ihrer Freizeitaktivitäten.

Stimmen Luftqualität oder Lichtverhältnisse  nicht, wird das sofort sichtbar. Jeder Händler dürfte in Zukunft also daran gemessen werden, welchen Beitrag er zum individuellen Wohlbefinden seiner Kundschaften leistet.

Dies haben verschiedene  Retailer erkannt:  2015 hat in Bordeaux  die  Promenade  Sainte  Catherine ihre  Tore  geöffnet. Mitten in der Stadt gruppieren sich 32 Boutiquen um einen kleinen Park, der zum Entspannen  während des Shoppings einlädt. Kürzlich wurden auch die Pläne für das KaDeWe in Wien der Öffentlichkeit präsentiert. Das berühmte Kaufhaus wird  an  seinem  zweiten  Standort  mit einem tausend  Quadratmeter  großen, öffentlich zugänglichen Park auf dem Dach aufwarten. Diese regelrechte Wellness-Oase mitten in der Stadt soll 2023 eröffnet werden.

Alle diese Beispiele täuschen allerdings nicht darüber hinweg, dass solche Erlebnisse  mit Investitionen verbunden sind. Fokussiert man sich dabei lediglich auf ein Flächenkonzept, ohne digitale Vertriebsmöglichkeiten und perfekt abgestimmte Prozesse zu einem integralen Konzept zu vernetzen, werden sie sich kaum lohnen.

Mit Digitalkompetenz in die Offlinepräsenz

Das stimmt auch in der umgekehrten Richtung. Verschiedene Onlinehändler und -plattformen nutzen stationäre Standorte für spezifische Zwecke und komplementär in ihrem Ökosystem. So betreibt etwa der Möbelhersteller Sofacompany, der online gestartet hat, punktuell Showrooms, in denen die Pro- dukte ausprobiert und die Stoffe bei Tageslicht angeschaut und  befühlt  werden  können.  Die Standorte  sind  natürlich nicht zufällig gewählt. Vielmehr erlaubt eine Analyse der Social-Media-Community eine ideale Auswahl nach Interessensgruppen und lokalem Potenzial.

Die  Schweizer   Onlineplattform   Digitec  Galaxus  wiederum nutzt Servicestandorte nicht als Ausstellungsfläche, sondern zu Beratungszwecken. Das soll den Servicegedanken des Unternehmens stärken. Und das US-Start-up B8ta verschreibt sich bewusst der Präsentation von Nischenbrands, die ihre Produkte bisher ausschliesslich über soziale Netzwerke wie Instagram vermarkten. Das Konzept namens Forum bietet Retail-as-a-Service. Es soll Markenpartnern Einblicke in die Interaktion in den Geschäften geben und Kennzahlen mit dem Partner teilen. Das sind beispielsweise die Anzahl der Kunden, die an ihrem Display vorbeigehen, die Zeit, die sie beim Stöbern verbringen oder wie oft ein Artikel in die Umkleidekabine gebracht wird. Die Partnermarken erhalten den vollen Verkaufsumsatz, während sie b8ta eine monatliche Pauschalgebühr zahlen.

Ob Sofacompany, Digitec Galaxus oder B8ta, alle diese beispielhaften Konzepte warten mit einer hohen Onlinekompetenz auf, und bei keinem geht es darum, auf der Fläche einen maximalen Umsatz zu erzielen. Dem Konsumenten stehen perfekt aufeinander abgestimmte Kanäle zur Verfügung, und er kauft, wann und wo es für ihn am bequemsten ist.

Das Erschaffen eines Ökosystems

Als Händler ist man nie allein im Ökosystem des Konsumenten. Als Ökosystem wird in diesem Zusammenhang ein Konzept verstanden, das dem Nutzer in praktisch allen Lebensbereichen, oder zumindest in klar definierten Teilbereichen, eine unterbrechungsfreie und bequeme Versorgungskette anbietet. Für den Anbieter bedeutet dies, eine Wertschöpfungskette aufzubauen, die diese Convenience ermöglicht. Aus ökonomischer Sicht werden sämtliche Kanäle, ob offline oder online, einem klar definierten Ziel zugeordnet und auf die Prozesse des Kunden abgestimmt. Es ist deshalb unerlässlich, dass man sich als Teil eines Ökosystems versteht und dieses auch bedient.

Entsprechend  der jeweiligen Rolle und Funktion der Fläche gilt es, die richtigen Messkriterien zu definieren. Wird die Fläche zum Erlebnisraum, wo Marken und Lifestyles inszeniert werden und ein „Bonding“ mit dem Konsumenten stattfinden soll, so kann der Umsatz pro Quadratmeter nicht der richtige Key Performance Indicator sein. Erlebnisse sind jedoch nicht einfach ausgeklügelte Produktpräsentationen. Im Vordergrund  steht das zu erzeugende  Gefühl  beim Konsumenten, das mit Tracking-Technologien und Wearables immer besser messbar  wird.  Messbares  Erlebnis-Design  wird damit  nicht nur auf der Fläche zur Devise und die Story damit zum neuen Branding. Hierfür sind Daten, deren Analyse und ein gezielter Einsatz  für  die  Definition  und  Optimierung  der  Wertschöpfung unerlässlich. Marken, die mit einem Online-only-Konzept gestartet sind, haben hier Vorteile. Sie können die Datenkompetenz mit überschaubaren Fixkosten aufbauen und die Offlinepräsenz auf Grundlage von Datenanalysen und mit klar definiertem Fokus ausbauen.

Deshalb muss die Wertschöpfungskette neu gedacht und müssen Geschäftsmodelle angepasst werden.

Erschienen im dLv-Trendreport 2020 - 2023. Hier bestellen.

Mehr erfahren über den Autor.